Lange, phantastische Geschichte, Sprecher super!
- Übersetzer: Stephan Kleiner
- Gesprochen von: Torben Kessler
Nach dem Wert „Ein wenig Leben“ dieser Autorin und positiven Bewertungen habe ich mich sehr auf dieses Hörbuch gefreut. Vor allem habe ich mich gefreut, dass erneut Torben Kessler spricht. Ich mag ihn sehr gern. Er spricht ruhig, sanft, fast etwas einlullend, aber zu diesem Buch sehr passend. Die Kombination Yanagihara & Kessler ist ideal.
Die Geschichte ist auch toll. Hanya Yanagihara schafft es, einen weiten Bogen über etwa 150 Jahre zu spannen. „Offiziell“ sind es drei Episoden, aber tatsächlich wird in der Geschichte mehrmals gesprungen. Mir fiel es schwer, die Zusammenhänge zwischen diesen Teilepisoden herzustellen, und ich hatte bis zum Schluss gehofft, es würde sich aufklären. Die Namen der Protagonisten der verschiedenen Zeitalter sind nämlich wiederkehrend, und zusätzlich kommt immer wieder die Herkunft aus Hawaii (übrigens sehr schön gesprochen von Torben Kessler) zur Sprache. Aber der Bogen ist eben so weit gespannt, dass meine Synapsen die Zeiträume nicht ganz überbrücken können. Vielleicht müsste ich mir die Stammbäume der Personen mal aufmalen, um genauer durchzublicken.
Yanagihara vermag es auch, in ihrer Welt einen alternativen Ansatz für die Homo-Ehe zu vertreten, und dabei gelingt es ihr, alle möglichen Was-wäre-wenns zu betrachten: Was wäre, wenn die Homo-Ehe schon im 19. Jahrhundert eingeführt wäre? Wie normal ist die Homo-Ehe? Was könnte dazu führen, sie wieder abzuschaffen, was für eine Gesellschaftsform müsste zugrunde liegen (gruselig). Dazu passend auch meine Unklarkeit, welchem Geschlecht ein*e Ich-Erzähler*in angehört. Selbst als der Name offenbart wird, wird nicht klar, ob eine Frau oder ein Mann spricht. Das passt m.E. sehr gut, weil man eben die Geschlechtlichkeit der Personen hinterfragt, alleine weil es keine stereotypen Verhaltensweisen dieser Person gibt.
Die Beschreibungen in der Geschichte sind sehr genau. Ich habe den Eindruck, über drei Viertel der Worte entfallen auf Zustandsbeschreibungen, und sie versucht den Leser/die Leserin an der Wortsuche teilhaben zu lassen. Vorgelesen von Kessler wird das Zögern, das Ausprobieren von Formulierungen sehr deutlich, und ich mag dies sehr. Dadurch wird deutlich – finde ich -, dass Betrachtungen und Bewertungen sehr individuell sind und welche Mühe es macht, die eigenen Eindrücke jemand anderen mitzuteilen. Sehr sehr gelungen.
Hinzu kommt, dass die Erzählerin sehr unterschiedliche Stile verwendet: Erzählte Geschichte, Briefaustausch, Ich-Erzählung, eine Rückbetrachtung. Mir gefällt das, aber es kostet Mühe, sich nach Lese-Unterbrechungen wieder einzufinden: Wo bin ich gerade nochmal? Und noch wichtiger: Wann bin ich gerade?
Nur ein Viertel der Worte – so fühle ich – sind tatsächliche Handlung. Und so war ich manchmal etwas ungeduldig, wann es denn endlich weitergeht. Wann hört die Innenbetrachtung der wechselnden Ich-Erzähler*innen auf, wann begeben wir uns wieder auf die Bühne der Handlung? Nun komm mal endlich voran! Aber das ist eben auch eine Kunst!
Und so lang die Geschichte auch ist, so ausführlich die Beschreibungen, so spannend die Handlung am Schluss: Alle Episoden enden leider irgendwie offen. Das endgültige Ende noch mehr, weil der mögliche Anschluss fehlt. Ich habe mich gefragt, ob es eine Fortsetzung geben soll. Ein offenes Ende ist soweit OK, aber angesichts der zurückhaltenden Handlung, deren Tempo und der Windungen der Zeitebenen, ist es mir etwas zu abrupt.
Mir fällt ein offenes Ende leichter, wenn ich den Sinn einer Geschichte trotzdem erschließen kann. Quasi die Moral dahinter. Was möchte die Autorin? Und dazu gibt es den einen Stern Abzug: Ich fühlte mich über viele Stunden sehr angenehm eingelullt, aber am Ende frage ich mich: Was nehme ich davon mit?