Die dicken Bücher von John Irving sind für mich regelmäßig schöne Urlaubslektüre. Lang genug, um mit einem Schinken durch 14 Tage mit abendlichen Rotweinglas und untergehender Sonne zu verbringen.
Diesmal habe ich mir für den Urlaub sogar das gebundene Buch gegönnt.
Herausgeber : Diogenes; 1. Edition (26. April 2023)
Sprache : Deutsch
Gebundene Ausgabe : 1088 Seiten
ISBN-10 : 3257072228
ISBN-13 : 978-3257072228
Originaltitel : The Last Chairlift
Preis : 36,00 €
Schon im Vorfeld wurde viel darüber geschrieben, der Ich-Erzähler Adam sei der einzige nicht-queere Charakter dieses Buches. Nun, John Irving war auch in der Vergangenheit schon Vorreiter bei der Beschreibung von … interessanten Persönlichkeiten, sei es ihr Geschlecht oder ihren Geschlechtstrieb betreffend.
Viele Motive von John Irving finden sich auch in diesem Buch – neu zusammengesetzt – wieder: Ringen, kleine Menschen, trans Personen, eine vaterlose Mutterschaft, Literaturstudium. Der Bär fehlt diesmal allerdings.
Bemerkenswert ist, dass Irving selber zu diesem Buch schreibt, ihm wäre das Ende sehr gut gelungen. Er habe das Buch vom Ende her geschrieben. Und gerade hier finde ich, die letzten etwa hundert Seiten sind zum einen ein totaler Bruch, wird diesmal doch Bezug auf die aktuelle politische Situation (Trumpismus) in den USA genommen. Zum anderen ist es für mich nur ein wildes Hin- und Herspringen zwischen den Zeiten und Schauplätzen, da habe ich mehrfach den Überblick verloren. Und schließlich sind auf den letzten Seiten nur noch schlecht zusammenhängende Phrasen und Weisheitssprüche versammelt, bis hin zu wilden Bibelzitaten einschließlich Textstellen – wo bis dahin eigentlich alle Protagonist*innen reichlich säkulär und antikatholisch eingestellt waren. Nein, durch diese letzten Seiten habe ich mich durchgeschleppt, um am Ende wollte ich, dass damit nun bald Schluss ist.
Auch die Geister sind für Irving reichlich unpassend. Ein solches „Fantasy-Element“ kam bisher bei ihm nicht vor, er konnte gut auf dem Boden von realen Gegebenheiten allerlei Absurditäten zusammenbringen, sodass sie passten. Doch diese Geister waren für mich fremd, ich konnte keine Logik herstellen oder Sympathien dafür aufbauen. Nein, wirklich nicht.
Und manche Situationen waren für mich ebenso unlogisch. Da wird jemand bei einem Fest vom Blitz erschlagen und alle Gäste labern weiter, als sei nichts geschehen. Ich glaube, auch in den USA werden Blitzeinschläge mit Todesfolge irgendwie traumatisch sein und jede Party platzen lassen. Das passt nicht. Vielleicht fing die Geschichte an diesem Punkt an, für mich zu zerfallen.
Komisch war auch der plötzliche Wechsel in der Schreibart. Warum werden einzelne Szenen als Drehbuch geschrieben? Klar, weil der Autor Drehbuchschreiber werden möchte (und weil Irving selber einen Oscar für „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ erhalten hat). Aber mich hat dieser Bruch einfach total genervt. Nicht nur, dass ich finde, der Lesefluss wird total gestört. Dieser Stil bringt an dieser Stelle keinen Mehrwert. Vor allem fragte ich mich beim Lesen mehrfach, befand ich mich nur in einer Vorstellung des Ich-Erzählers oder sollte es Teil der tatsächlichen Geschichte sein.
Dabei fing es doch so schön an. Schnell hatte ich mich in Exeter eingefunden, die Ursprungsfamilie von Adam war mir sehr sympathisch. Die Liebe in der Familie war greifbar, ich fühlte mich heimelig umfangen von der gegenseitigen Fürsorge.
Allein Adam selber, der Ich-Erzähler, blieb für mich schnarchig. Der Charakter wird über die ganze Geschichte nur von anderen Personen durch’s Leben getragen. Ich hatte das Gefühl, Adam hätte keinen eigenen Antrieb und keine eigene Meinung, keine Energie. Alles wird von seinen Familienangehörigen oder den Umständen entschieden. Er möchte zwar Autor werden (warum eigentlich), aber selbst dorthin wird er getragen: Die Studienorte werden für ihn ausgesucht, seine Partnerschaften werden arrangiert, sogar zum Sex wird er eher verführt, als dass er einen eigenen Trieb entwickeln würde. So klar die anderen Personen in der Geschichte sind, so unklar, so ungreifbar, so energielos erschien mir Adam. Gerade durch die Ich-Perspektive wird dass nach über 1000 Seiten zäh, und am Ende wirkt es auf mich wahrhaft uninspirierend. Schade.
Im Fazit: Da ich die letzten 100 Seiten wieder daheim, nach dem Urlaub, vor dem Hamsterrad gelesen habe, passte es. Denn die ersten etwa 976 Seiten passten zu den Sonnenuntergängen. Und die letzten 100 Seiten wollte ich dann noch schnell erledigen, bevor ich wieder an die Arbeit musste.
Ich weiß allerdings nicht, ob ich mich auf einen nächsten Irving – wenn er denn noch kommen sollte – nochmal freuen würde. Vielleicht warte ich dann auf die Taschenbuchausgabe.